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Gedankensplitter

Über den eigenen Schatten springen

Wer gerne Kinofilme schaut, weiß um den obligatorischen Vorspann. Zunächst setzen die verschiedenen Produktions- und Vertriebsfirmen ihre jeweiligen Firmenlogos eindrucksvoll in Szene. Dann folgen in großen Lettern die Namen der Hauptdarsteller, des Regisseurs, was auch immer als wichtig erscheint, dann der Titel. Musik untermalt und leitet zur ersten Filmsequenz über. Erwartung wird aufgebaut, auch Stimmung. Der Vorhang geht auf.

Wenn ich mir den Beginn des Matthäusevangeliums anschaue, denke ich mir: Nicht Vorspann, sondern Abspann. Eine Aneinanderreihung von Namen, die mit Sicherheit nur die wenigsten kennen – ich jedenfalls längst nicht alle – und die zu lesen mehr Mühe bedeutet als Genuss. Natürlich weiß ich um den Sinn des Ganzen. Matthäus bringt es ja auch selbst ins Wort: „Im Ganzen sind es also von Abraham bis David vierzehn Generationen, von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft vierzehn Generationen und von der Babylonischen Gefangenschaft bis zu Christus vierzehn Generationen.“ (Mt 1,17) Heilsgeschichte! Gott hat seinen langen Plan mit uns Menschen. Und ja, hinter manchem Namen verbergen sich interessante Details. Trotzdem, im Vergleich zur erwarteten Weihnachtsgeschichte bleiben diese Zeilen eher uninteressant. Wen wunderts da, dass diese Zeilen der Liturgie des „Heiligen Abend“ zugeordnet sind und nicht der der „Heiligen Nacht“. Und so wird Lukas in der Christmette zu Gehör gebracht, also wie es uns vertraut ist; der Stammbaum Jesu bleibt für die Bibliophilen.

Vielleicht geht es uns in dieser Phase der Corona-Krise gar nicht anders. Da gab es schon vor gefühlten Ewigkeiten die Meldungen von möglichen Impfstoffen. Groß wurden die Spitzenreiter präsentiert, von bahnbrechenden Entwicklungen berichtet. Ganz großes Kino. Und dann: Studien in Labor und Klinik, dann in der Fläche. Es geht um Wirksamkeit, um die richtige Dosis, es geht um Nebenwirkungen. Und daneben die zunehmende Unruhe in Gesellschaft und Politik. Die einen wollen möglichst schnell wieder in ihren Alltag, andere winden sich, belassen es bei Appellen und guten Ratschlägen, wollen sich jedenfalls nicht unbeliebt machen. Wo Wissenschaftler und Unternehmen sonst in Ruhe über Jahre und Jahrzehnte hinweg entwickeln konnten und sich erst ganz am Schluss herausstellte, ob der Aufwand auch zum Ziel geführt hatte, scharren jetzt ganze Gesellschaften mit den Hufen. Gefühlt geht alles viel zu langsam. Ergebnisse müssen her. Alles andere ermüdet, demotiviert, frustriert.

 

Ich komme ins Stocken. Ist es das eigene „Kopfkino“, das meine Sehgewohnheiten bestimmt und oft genug – und so auch jetzt –die Deutung des Gesehenen vorgibt? Die inneren Bilder, die Begriffe und Situationen in mir wachrufen, legen sich dann über das gerade Gesehene und verändern damit ganz unmerklich auch die Gegenwart. Ich mache augenfällig, was ich damit meine. Seit ich eine eigene Wohnung habe, habe ich mir über viele Jahre hinweg eine überaus ansehnliche Krippe zu gelegt – mit Wurzeln und Moos, einem tollen Stall und kunstvoll geschnitzten und prächtig colorierten Figuren. Und das natürlich vor der Kulisse eines großen Weihnachtsbaumes. Bei uns Zuhause ging es nie so üppig zu, aber wahrscheinlich sollte diese Krippe etwas von den weihnachtlichen Gefühlen aus Kindertagen in meine Junggesellenwelt hinüberretten. Mir war das viele Jahre sehr wichtig. Seit ein paar Jahren besitze ich noch eine weitere Krippe, eine „Krippe für Puristen“ wie sie heißt. Rechteckige Holzklötze allein versehen mit den Namen der üblichen Krippenfiguren. Minimalistisch – zugegeben, aber frei von inneren Bildern. Keine Festlegung durch Kleidung, Alter, Körperhaltung oder Hautfarbe der Dargestellten. Kopfkino funktioniert da nicht. Ich muss oder kann still werden, leer, aufnahmebereit für die Botschaft hinter dem Gesehenen.

Mit dieser Haltung im Gepäck wende ich mich der eigentlichen Geburtsgeschichte bei Matthäus zu. Erzählt wird von Josef und seiner Verlobten. Obgleich sie noch nicht miteinander intim geworden waren, wird Maria schwanger. Für Josef ein Unding. Matthäus dazu: „Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen.“ (Mt 1,19) Fridolin Stier, ein angesehener, mittlerweile verstorbenen Exeget, übersetzt sich viel strenger am Urtext haltend: „Josef aber, ihr Mann – rechtlich wie er war, und doch nicht gewillt, sie anzuprangern – beschloß, sie im stillen zu entlassen.“ Ein Engel muss ihm des Nachts im Traum gut zureden. „Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. Er erkannte sie aber nicht, bis sie ihren Sohn gebar. Und er gab ihm den Namen Jesus.“ (Mt 1,24f.) Das ist alles. Es folgen im Nachgang die Huldigung der Sterndeuter, die Flucht nach Ägypten, Kindermord und Ansiedlung in Nazareth.

Das, was als Vorspann erschien, der Stammbaum Jesu, gern überlesen und unbeachtet, wird zum Teil der Botschaft. Mögen sich auch noch so große Namen im Stammbaum finden lassen, mögen sich auch schräge Typen darin verbergen, mag sich die Geburt Jesu auch über noch so viele Generationen hinweg vorbereiten, der Zielpunkt ist kein großes Finale, kein Showdown und kein strahlendes Happyend. Hier endet die Kino-Metapher. Großes Kino ist für Gott, wenn Sturköpfe ihren Träumen trauen, über ihren eigenen Schatten springen und vielleicht nicht das tun, was recht ist, sondern was menschlich richtig ist. Das reicht IHM, um sich ihnen anzuvertrauen.

 

Nun, was könnte die Botschaft des Corona-„Films“ sein? Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, am Drehbuch, bei der Regie oder auch als Darsteller mitwirken könnten, welches Gefühl, welche Erkenntnis sollte nach dem Abspann beim Zuschauer hängenbleiben? Welchem Genre sollte der Film verpflichtet sein? Katastrophenfilm – die Welt geht unter und nur wenige kommen davon? Melodram – die großen Linien in Gesellschaft und Politik durchkreuzen das Leben des Einzelnen und lassen ihm nur einen Weg in Ohnmacht und Leid? Vielleicht Western – die Siedler sind vom Coronavirus umzingelt und im letzten Augenblick kommt die Kavallerie mit dem rettenden Impfstoff? Oder doch Herzkino – Nach der großen Krise liegen sich alle in den Armen und alles geht so weiter wie bisher? Wissenschaftsfilm geht natürlich auch – hinterher sind alle klüger als vorher. Würden Sie dafür ins Kino gehen?

Mir selbst wäre wichtig, dass der Film nicht nur ein Ende hat, sondern auch eine Handlung. Und zwar dergestalt – mag sein kitschig – mir aber in diesem Fall sehr sympathisch: Menschen springen über ihren eigenen Schatten, nehmen Nachteile in Kauf, suchen nicht zuerst ihren eigenen Vorteil und lassen sich durch Nichts und Niemanden davon abbringen. Menschen setzen sich ein, forschen, planen, entwickeln, gelangen zu neuen Erkenntnissen. Menschen halten zusammen, lassen sich nicht unterkriegen. Dann wäre das, was wir jetzt erleben, gefüllte Zeit, nicht Leerlauf; nicht als überflüssig erlebter Vorspann, sondern wesentlicher Teil des Erzählstrangs. Darum dann auch Großes Kino, weil die Größe des Menschen sich in seiner Schwachheit zeigt und in seiner Fähigkeit gemeinsam Herausforderungen zu meistern.

„All dies ist geschehen, damit erfüllt werde das vom Herrn durch den Propheten Gesprochene, der sagt: Da! Die Jungfrau wird im Schoße tragen und wird gebären einen Sohn. Und seinen Namen wird man rufen Immanuel, das heißt übersetzt: Mit uns ist Gott.“ (Mt 1,22f.; nach Fridolin Stier)

Warum ich diese beiden Verse an den Schluss setze? – Weil die eigentliche Botschaft der Bibel und ihrer Erzählungen nicht die ist, die uns unser Kopfkino nahelegt, sondern die, die aufscheint, wenn wir uns von all dem freimachen, was uns sonst prägt oder besetzt.

Im Klartext und ins Jetzt gesprochen: Weihnachten, Geburt des Erlösers, ist für mich, wenn Menschen/ wo Menschen sich zusprechen „Mit uns ist Gott.“ Ich erfahre ihn durch dich, der/die du mir beistehst, nicht das tust, was erlaubt ist, sondern das, was richtig ist, damit es mir in deiner Nähe gut geht. Ich erfahre es, wo ich selbst über mich hinauswachse, von mir absehe und nur ein Interesse habe: dass es dir gut geht. Ich erfahre es, wenn Gott etwas zum Leben bringt – in dir und in mir, was einfach göttlich ist.

 

 

Ihr

Gerhard Pieper

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Pfarrer Gerhard Pieper